Sorry We Missed You

Mittwoch, 30. Juni 2021, 19.30 Uhr:

OT: Sorry We Missed You
Regie: Ken Loach
Drehbuch: Paul Laverty
Kamera: Robbie Ryan
Musik: George Fenton
Darsteller: Kris Hitchen, Debbie Honeywood, Rhys Stone, Katie Proctor


GB 2020, OmU, 100 Min.

Ricky Turner (Kris Hitchen) lebt mit seiner Familie im nordenglischen Newcastle. Seit der Finanzkrise 2008 kämpfen er und seine Frau Abby (Debbie Honeywood) mit Schulden. Seine Gelegenheitsjobs als Handwerker und ihre Arbeit als Altenpflegerin bringen die vierköpfige Familie kaum noch über die Runden. Dennoch träumen die beiden von ein bisschen Unabhängigkeit und einem eigenen Heim. Umso mehr lockt Ricky die Chance auf eine bessere Zukunft. Er wird freiberuflicher Kurier eines Paketdienstleisters. “Du bist dein eigener Boss”, grinst Maloney, sein Chef (Ross Brewster).

Gig-Ökonomie nennt man dieses Geschäftsmodell, die Arbeiter sind hier kleine Ich-AGs, man könnte auch sagen: Sie sind Tagelöhner. Für junge Leute mag die Selbstausbeutung eine Zeit lang attraktiv sein, für den Familienvater ist es die Hölle. Verspätet er sich, zahlt er eine Geldbuße, und beschädigt er den Scanner, sind 1000 Pfund fällig. Der Scanner ist das Zentralorgan des Lieferdepots, ein Alleswisser und perfektes Überwachungsinstrument. “Die schwarze Kiste”, sagt sein Chef, “entscheidet, wer stirbt und wer überlebt. Mach die Box glücklich, Ricky!”
Parcels delivered fast. Der Name steht für ein Versprechen und so gerät Ricky zunehmend in den Strudel von Zeitdruck, Überarbeitung und noch mehr finanziellen Defiziten. Familiäre Zusammenstöße bleiben nicht aus. Die elfjährige Tochter Lisa Jane (Katie Proctor) ist schlau und scharfzüngig. Ihr älterer Bruder Seb (Rhys Stone) lebt in seiner geschlossenen Smartphone-Höhle; die Eltern, scheint es, sind kaum mehr als Störgeräusche in der Außenwelt - und dennoch ist der Zusammenhalt der Familie das Einzige, was jetzt noch zählt.

Der 84-jährige Altmeister Ken Loach („Angels´Share“, „I, Daniel Blake“) ist einer der wenigen Regisseure, die dem sozialen Realismus die Treue gehalten haben. Die Schönheit seines Kinos entsteht aus der Aufmerksamkeit für die Figuren, aus seinem inständigen Blick. Loach schenkt ihnen die Zeit, die sie füreinander nicht haben, und ein Bewusstsein ihrer Misere. Ricky spürt, wie kaputt eine Gesellschaft ist, in der die Menschen nur kurz den Kopf aus ihren Behausungen stecken und nach ihrem Päckchen schnappen, nach Sextoys oder dem neuen Handy. Besser, man klebt einen Zettel an die Tür: “Sorry we missed you”.

Fotos © Filmladen