Être et avoir – Sein und Haben

Regie u. Drehbuch: Nicolas PHILIBERT
Kamera: Katell DIJAN, Laurent DIDIER
Musik: Philippe HERSANT
Mit: Georges LOPEZ und den Schulkindern von Saint Etienne sur Usson

F 2002, ca. 105 Min.

Mittwoch, 29. Okt. 2003

Ein ungewöhnliches Thema – und dennoch wurde daraus ein großer Film, der die Herzen von über einer Million Zuschauern eroberte. Der 5jährige Hauptdarsteller Jojo wurde in Cannes gefeiert wie ein Hollywood-Star.

Die Fahrt führt in die umliegenden Landschaften der Auvergne. Es ist Wandertag, im Bus vertreibt man sich mit fröhlichen Liedern die Zeit, später picknicken Lehrer und Schüler im Schatten eines Baumes.
Da geht plötzlich eines der Mädchen verloren – und eine Suchaktion beginnt. Der Kopf des Lehrers ist dabei der einzige, der aus dem Kornfeld herausragt.

Diese Szene aus „Être et avoir“ hat fast allegorische Qualität. Denn Georges Lopez, Lehrer in einer von ca. 400 französischen „Zwergschulen“ – die also aus nur einer Klasse bestehen – übt seinen Schülern gegenüber eine ähnlich beschützende Rolle aus wie ein Hirte.

Seit 35 Jahren ist Monsieur Lopez Lehrer. Wie es sich gehört, wohnt er im Schulhaus. Seine Autorität ist sanft, aber bestimmt. Die liebevolle, behutsame Art, in der er seinen Schützlingen Wissen vermittelt, prägt die Atmosphäre des Films.

Regisseur Nicolas Philibert vollzieht mit der Neugierde des Anthropologen den Unterricht mit – die Interaktion zwischen Lehrer und Schülern, die einer ständigen Verhandlung gleicht; so wird eine Ordnung sichtbar, die stets gefährdet ist von Unaufmerksamkeit, Rivalität oder Vermittlungsproblemen.
Die Einstellungen bleiben ruhig, der Blick der Kamera jedoch flexibel: Er kann eine Lektion wiedergeben oder sich dem einzelnen Schüler zuwenden, wo er mitunter ein gänzlich anderes Drama erhascht – die Entwendung eines Radiergummis.

Der Reiz dieses außergewöhnlichen Films liegt in der Atmosphäre und der Nähe, die er vermittelt. Die Kinder agieren natürlich, man glaubt, mitten unter ihnen auf der Schulbank zu sitzen.
Mit der Zeit treten der eine oder andere Star hervor: Jojo, ein wenig der Bengel, der die Geduld des Lehrers gern auf die Probe stellt; Nathalie, still und unergründlich, oder die älteren Jungen, Julien und Olivier.

Doch Nicolas Philibert begnügt sich nicht damit, den Schulalltag zu zeigen. „Etre et avoir“ gibt ganz nebenbei auch Einblicke in die harte Kindheit auf dem Land.

„Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ (Ernst Bloch).
Neben all der situativen Komik von „Etre et avoir“ geht es auch um diese Entwicklung – diese Vorbereitung auf die Welt der Erwachsenen.

Seit bald 20 Jahren gilt Nicolas Philibert (51) als einer der besten Dokumentarfilmer Frankreichs.
Geschlossene Welten scheinen ihn besonders zu interessieren: Er behandelt so unterschiedliche Themen wie die französische Käsekultur ("La face nord du camembert", 1985), das Innenleben des Pariser Louvre ("La Ville Louvre", 1990) oder Taubheit ("Land der Stille", 1998). Für "Être et Avoir" ("Sein und Haben"), wurde er in Rom mit dem Europäischen Filmpreis für Dokumentarfilme ausgezeichnet